Geschichten aus dem Familienleben

Kapitel 14: Wahre Märchen

Um es ein für allemal klar zu stellen: Ich bin nicht der Vater von Nicolas.
Mit diesem Statement ersparen wir uns hoffentlich die wiederholten Erklärungen, die wir abgeben müssen, wenn wir mit unseren Kindern Spazieren gehen. Der Vorgang ist stets gleich. Wir treffen dabei Leute, ein kurzes Gespräch beginnt, die Kleinen werden begutachtet, Nicolas bekommt die hellblonden Haare getätschelt und dann die unvermeidliche Frage: „Von wem hat er denn die Locken?“, wobei die Augen des Fragestellers von meinen schwarzen zu Claudias dunkelblonden glatten Haaren wandern.
„Vom Briefträger“, antworten wir dann Unisono. Ungläubiges Schweigen folgt, zweifellos auch die Überlegung, wie das sein kann, weil er und Michelle doch Zwillinge sind. Ortskundige wenden dann ein: „Aber der Postbote hat doch dunkle glatte Haare.“
„Dann halt vom Milchmann.“ Das Gespräch ist danach schnell beendet, von diesem Fragesteller werden wir nicht mehr behelligt.
Gut, es ginge auch einfacher. Ich könnte mir eine Dauerwelle machen lassen und mein Haupt blondieren, doch dann käme ich in einen Erklärungsnotstand, von wem denn Christopher seine Haare hätte.
Also flunkern wir weiter. So verschaffen wir uns Ruhe. Das ist übrigens nicht nur ein probates Mittel Außenstehenden gegenüber, sondern funktioniert auch innerhalb der Familie ganz gut. Beispiele gefällig?
Michelle, unsere kleine Dame, ist trotz ihres zarten Alters schon sehr kleidungsbewusst. Wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat, den pinkfarbenen Teletubbies-Pullover anzuziehen, auch wenn er nach dreitägigem Gebrauch vor Schmutz starrt und nicht zur roten Hose passt, schreit sie so lange, bis sie ihren Willen hat.
Ähnlich verhält es sich mit dem Motiv auf ihren Pampers. Seit der Windel-Hersteller Figuren aus der Sesamstraße abbildet, zieht sie nur die Windeln an, die den orangefarbenen Ernie aufgedruckt haben. Sie stöbert so lange im Windelvorrat, bis sie das richtige Motiv gefunden hat. Versuche, ihr einen gelben Bert oder das blaue, Kekse essende Krümelmonster anzuziehen, enden in ohrenbetäubenden Gekreische. So türmen sich daheim Berge von ungeliebten Sesamstraßlern, während Ernie Mangelware ist.
Da hilft nur der alte Hütchen-Spiel-Trick. Ich ziehe eine Windel meiner Wahl aus dem Stapel, Michelle keift und fischt sich ihren orangefarbenen Favoriten heraus. „Aber sicher, kleine Prinzessin, natürlich bekommst du den Ernie an“, flöte ich und mische die beiden Pampers wie beim Kartenspiel. Verdeckt ziehe ich die Windel an. „Hier habe ich ihn. Er sieht aber heute besonders hübsch aus.“ Die Kleine hört auf zu brüllen und strahlt mich an. Und von der Windel zwinkert mir verschmitzt ein blaufarbener Keks-Esser zu.
Der Zweck heiligt die Mittel, so heißt es doch. Bei Nicolas ist das Einschlafen ein Problem. Er bevorzugt es, bei und mit Claudia im Bett einzuschlafen. Wie überzeugt man einen solchen Kuschelkönig davon, dass er ein eigenes Bett hat? Alle gesäuselten Argumente fruchten nichts, also muss es die harte Tour sein.
Claudia hatte es schon beim Zähneputzen, das er gar nicht gerne macht, erfolgreich angewandt. „Wenn du sie nicht putzt, dann kommt der Mann dich holen.“ Dieser imaginäre Mann als vielfältige Drohgebärde hatte bereits in der Kindheit meiner Frau wahre Wunderdinge vollbracht.
Und da liegt es nahe, dass er auch bei Nicolas Bettenwahl rekrutiert wird. Zuerst ist es nur ein „Geh in Dein Bett schlafen, sonst holt dich der Mann.“. Als er immer noch in „Mama Bett“ will, entrutscht mir in meinem jugendlichen Leichtsinn ein „Nein, du musst in dein Bett. Bei Mama im Bett liegt der Mann.“ Kindliches Schweigen, ein entsetzter Blick, und dann marschiert er tatsächlich in sein Zimmer.
Seitdem plagt mich ein Alptraum. Nicolas wird von einer Person angesprochen, die von uns bereits eine Von-wem-hat-er-nur-die-Locken-Abfuhr erhalten hat. „Na, wo schläfst du denn am liebsten?“ – „Mama Bett.“ – „Ah, hast du die Nacht da geschlafen?“ – „Nein, Mann in Mama Bett.“ – „Du meinst bestimmt, dein Papa hat da geschlafen.“ – „Nein, Mann in Mama Bett.“ Endlich ein neues Thema in Klausen nach dem Briefträger-Locken-Skandal. Und für mich gilt: Die Geister, die ich rief...
Harmloser ist dagegen das, was wir uns bei Christopher einfallen lassen mussten. Er hatte sich letzten Sommer zu einem Fernseh-Junkie entwickelt und war nicht mehr von der Flimmerkiste wegzubekommen. Sanfte Ermahnungen fruchteten ebenso wenig wie das rigorose Ausschalten des Geräts. Letzteres führte zu Protestgeschrei und nervigen Diskussionen. Also musste ich wieder zu einer List greifen. Wenn seine Augen durch ausufernde Fernsehsitzungen wieder eckig zu werden drohten, schlich ich mich in den Keller und legte den Sicherungsschalter für das Wohnzimmer um. Wieder oben angekommen, mimte ich den Ahnungslosen und fragte den unsanft in die Realität Zurückgeholten, was denn passiert sei. Sein Wehklagen, dass der Fernseher plötzlich ausgegangen sei, quittierten Claudia und ich mit der Bemerkung, dass der wegen Dauerbetrieb überhitzt sei und deswegen ausspringen würde. Dieses scheinbare technische Problem wurde zerknirscht, jedoch ohne großes Gebrüll akzeptiert. Bis heute ist Christopher noch nicht hinter die wahre Ursache gekommen, obwohl er sonst technisch sehr interessiert und geschickt ist. Er scheint es noch nicht akustisch mitbekommen zu haben, dass ich vor jedem Ausfall die Kellertreppe hinuntergegangen bin und den etwas in seinen Scharnieren quietschenden Sicherungskasten geöffnet habe.
Bei dieser Methode gilt es jedoch zwei Regeln zu beachten:
Niemals abends die Sicherung herausdrehen, weil man sonst im Dunkeln durchs Wohnzimmer tappt.
Außerdem verliert man dann den Kontakt zur Außenwelt, weil gleichzeitig das Telefon ausgeschaltet wird. (Vielleicht ist das die Erklärung für manchen Anruf, den wir nicht entgegengenommen haben.)
Das sind also ein paar Beispiele, wie man seine Sprösslinge überlisten kann, ohne lautstarke Argumente auszutauschen. Natürlich gibt es auch kleine Kniffe, die man gegen seinen Ehepartner anwenden kann. Ich will hier aber nicht zu viel verraten, nur so viel: Besonders kreativ muss ich für meine Computersitzungen sein. So viele dringende Mails und dienstlich bedingte Internetaufrufe sind zwar schwer vorstellbar, aber was soll es, wenn man so geschickt wie ich vorgeht und mir vorbehaltlos geglaubt wird.
Ich muss nun zum Ende kommen. Claudia sagt gerade, dass sie schon wieder eine dieser unerklärlichen Stromschwankungen in der Küche bemerkt hätte. Sie müssen wissen, das ist ein ganz mysteriöses Phänomen, was mich in letzter Zeit wiederholt ärgerte. Es tritt nur in unserem Haus auf, immer dann, wenn ich länger am Computer sitze. Kurz nach dem Flackern in der Küche fällt der Strom im Arbeitszimmer (und nur dort) aus, Monitor und PC sind schlagartig tot, was auch der Grund ist, weswegen ich diese Geschichte schon zum dritten Mal schreibe. Ich weiß mir keinen Rat mehr und muss das Ärgernis so hinnehmen. Dann schaue ich mir halt mit meiner Frau zusammen einen Fernsehfilm an.
„Es flackert schon wieder“, ruft Claudia aus dem Keller, während im Hintergrund ein Scharnier quietscht.
Also, schnell noch diese Story abspeichern, bevor...

 (27.01./06.02./07.02.2002)
Copyright by Frank Schmitt


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