Kapitel 15: Das
Sonntags-Frühstück
Sonntag,
21. April 2002
Sonntag
morgen, neun Uhr in Deutschland. Am heimischen Frühstückstisch. Ich nehme die
Essensbestellungen entgegen.
"Nick, was willst du essen?"
"Knuspaboot mit Lade", kommt es nuschelnd von gegenüber.
"Ein Knusperbrot mit Marmelade. Gut. Und du, Michelle?"
"Auch Knustaboot! Mit Nuh-della!" Michelle bestellt immer lautstark
und mit Ausrufezeichen, Ausreden bei Falschlieferung wegen Schwerhörigkeit sind
bei ihr zwecklos.
"Und du, Christopher?"
"Ich, äh, äh, weiß noch nicht."
Chris ist der Alptraum jedes Kellners, unentschlossen und wechselhaft. Ich
vermerke die Orders der Zwillinge auf meinem Bestellblock und erkläre, wieder
zurückzukommen, wenn er sich entschieden hat.
Wehmut überkommt mich. Was waren das noch für Zeiten, als Claudia und ich
morgens alleine frühstücken konnten. Zu zweit im Wintergarten, geruhsam den
Sonntag beginnen, der kleine Tisch übersichtlich mit Speisen dekoriert.
Aus und vorbei! Seit die Kleinen da sind, gleicht die morgendliche Speisung dem
Treiben in einer Großkantine. Lärmpegel und Vielfalt der Menüwünsche
entsprechen einer solchen Atmosphäre, und hinterher gleicht die Tafel dem
Schlachtfeld eines halbleer gegessenen Buffets.
Claudia ist mittlerweile mit dem Bestreichen der Knusperbrote fertig und gibt
sie den Zwillingen. Sie werden dankbar aus ihrer Hand gerissen. Sofort setzt die
Vernichtung der Brote ein, ein Geräusch, als ob sich eine Armee Mäuse über
Cornflakes hermacht. Christopher ist immer noch in der Überlegungsphase.
"Oder möchtest du ein Müsli, Chris?"
Im selben Moment merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die linke Seite
der Mäusearmee verstummt augenblicklich. Nicolas hat mitbekommen, dass es etwas
neues zu essen gibt. "Ich auch Müsli." Seine Äußerung war laut
genug. Auch die rechte Armeehälfte wird still. Zwei Worte mit Ausrufezeichen
folgen. "ICH AUCH!"
Das ist nicht fair. Chris ist immer noch am Zaudern, und uns gegenüber werden
zwei angebissene Brotscheiben auf den Tisch zurückgeworfen. "Oh, nein!
Umbestellungen kosten extra und werden vom Taschengeld abgezogen."
Das ist den zweien herzlich egal, Taschengeld gibt es noch keines, und so geht
die Drohung ins Leere. Es bleibt erfahrungsgemäß ohnehin nicht die letzte
Änderung.
Also machen Claudia und ich uns an die Erstellung der Müsli-Rationen. Zuerst für
die Zwillinge, und kaum dass wir sitzen, entschließt sich Christopher endlich
auch zum Frühstücken, also nochmals aufstehen und in die Küche.
Schweigend ertragen Claudia und ich das typische Los von Küchenfrau und
Kellner. Durch unsere Hände wandern Unmengen von Nahrungsmittel, und selbst hat
man keine Zeit für den Verzehr. Im Gegensatz zum Küchenpersonal können wir
jedoch nicht vorher essen. Beim geringsten Anzeichen auf Mahlzeiten sitzen Nicolas und
Michelle am Tisch und verfolgen ungeduldig die Speisevorbereitungen.
Wir sitzen wieder und setzen zum ersten Biss an. Da tönt aus der Küche ein
helles Summen, den Kleinen sattsam bekannt. "Eier!"
Der Eierkocher hat fertig. Die Müslischalen werden leicht geleert auf den Tisch
gestellt, den jetzt beginnt der eigentliche Spaß. Eier pulen. Mit und
ohne Schale. Die kleinen Fäustchen ergreifen die Löffel und schlagen
galeerenartig den Eier-Holen-Takt auf die Tischplatte.
Wir leben in einer zivilisierten Welt. Mit kultivierten Essmanieren. Vergessen
Sie das alles, wenn Sie bei uns frühstücken. Sie sind dort nicht in der
Neuzeit. Eher tiefstes Mittelalter. Was jetzt folgt, treibt einem mit den
Händen verzehrenden Rittersmann die Schamesröte ins Gesicht. Nach kurzer Zeit
liegen mehr
Eierbestandteile auf Kleider, Stuhl und Boden als auf dem Tisch. Unbedeutende
Mengen haben sich dabei in kleine Münder verirrt. Nicks Esskultur ging einmal
sogar so weit, dass er auf die Zuhilfenahme der Hände ganz verzichtete und der
Einfachheit halber direkt sein Gesicht in die Mahlzeit versenkte.
Michelle hat nun genug. Das zeigt sich daran, dass sie mit ihrem Bein Nicolas
Stuhl wegdrückt, der in Schieflage gerät. An sich kein Umstand, den ihr
Zwillingsbruder stören würde, es sei denn, dadurch geraten ihm die
Nahrungsmittel aus dem Blick. Wütender Protest folgt, und Michelle wird vom
Platz verwiesen. Sie setzt sich zu Christopher, der schon eher aufgegeben hat,
an den Fernseher.
Endlich Zeit, den ersten Schluck Kaffee zu genießen. So recht will es mir nicht
schmecken, denn mir sitzt Nicolas gegenüber. Sein Mund ist marmeladenrot
bestrichen, durchsetzt mit einigen Müslistücken. Von einem Ausflug zum
schwesterlichen Nachbarteller hat sich Nutella-Schminke an seine linke Backe
verirrt. Milchflecke zieren seinen roten Pullover. Derweil kaut er auf seinem
Knusperbrot weiter. Mangels oberer Schneidezähne (bezeichnenderweise verloren
durch einen Essensunfall) kaut er es ausgiebig in den äußersten Mundwinkeln.
Das ist wohl mit ein Grund, weswegen er wiederkäuer-gleich isst. Neben seinem
unerschöpflichen Appetit.
Das ehegattliche Frühstück macht unfassbare Fortschritte. Fünf Bissen in
Folge können wir machen, bis er aus Richtung des Fernsehers tönt "DUAST!"
"Was willst du denn, Michelle. Milch oder Saft?" - "Saft!"
"Ich auch Saft." Das ist das blondgelockte Essensmonster mir gegenüber.
Trink- oder Speisewünsche, egal in welcher Lautstärke geäußert, werden von
seinen Ohren aufgesogen und unverzüglich in die Zone seines Gehirns
weitergeleitet, die für die Nahrungsmittelaufnahme zuständig ist. Das ist die
obere Hirnhälfte. Und wer Nick kennt, weiß, dass er einen äußerst ausgeprägten
Kopf hat.
Früher hatte er Probleme mit dem Sprechen. Hinkte immer in der Entwicklung
Michelle hinterher. Doch in einem war er schneller. Weil es überlebenswichtig
war. Speisenamen konnte er als
erster.
Sein Nahrungstrieb ging sogar soweit, dass er im zarten Alter von achtzehn
Monaten seine erste Mahlzeit selbst zubereitete. Claudia hatte die Fischstäbchen
neben den Herd gelegt und war die Pfanne am Erwärmen. Sie hatte
noch etwas aus dem Abstellraum zu holen. Das dauerte unserem Vielfraß zu lange,
also schob er sich einen Küchenstuhl an den Herd, stieg hinauf und warf die
Fischteile in die Pfanne. Sein Schutzengel passte gut auf, so dass er sich dabei
nicht verbrannte. Oder war es der Schutzpatron des guten Essens. War das nicht
der Heilige Nicolas?
Indes geht die Fütterung der Raubtiere weiter. Doch da nur noch hauptsächlich
ein Wiederkäuer zu bedienen ist, können Claudia und ich endlich unsere
Mahlzeit beenden.
Nur noch der Zwillingsbruder ist am Frühstücken. Nein, das ist wohl der
falsche Begriff. Brunchen kommt der Sache schon näher. Oder Brunch mit anschließendem
Abendessen? Das trifft es.
Wie bringt man unseren Nick dazu, endlich vom Tisch aufzustehen? Umständliches
Abräumen der Teller und beginnendes Säubern von Platte und Boden werden
geflissentlich ignoriert. Mit stoischer Ruhe isst unser Blondgelockter weiter.
Proteste gibt es nur, als das Marmeladenglas entfernt werden soll.
Da hilft nur eines. Das todsichere Mittel, damit Nicolas vom Frühstückstisch
aufsteht. Es ist ohnehin kurz vor zwölf Uhr.
"Nick, steh auf! Wir gehen zur Oma, Mittagessen!" (
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