Geschichten aus dem Familienleben

Kapitel 13: Schutzengels freier Tag

Montag, 02. Juli 2001

Haben Schutzengel Anrecht auf einen freien Tag? Ist ihnen zuviel zugemutet, auf drei Kleine gleichzeitig aufzupassen? Dürfen sie für bessere Arbeitsbedingungen in Streik treten? Letzten Montag hatte ich den Eindruck, dass eine dieser Fragen mit "Ja" beantwortet wurde.
Es war einer dieser Tage, von denen man im nachhinein erzählt, man wäre besser im Bett geblieben. Doch was ist, wenn man knappe zwei Jahre alt ist und sich nicht dagegen wehren kann, von den Eltern aus dem Bett gezerrt zu werden?
Verzeih, Nicolas, dass wir dir das antaten. An jenem Kirmesmontag...
Es begann mit der Aufstellung eines neuen Rekords. Eines schmerzhaften, zugegeben. Die Disziplin nennt sich Treppensteigen. Oder, um korrekt zu sein, die abrupte Umkehrung davon. Unser lockenköpfiger Nick, von seiner Schwester um sieben Minuten beim Geburtsvorgang geschlagen, ist seit jeher darum bemüht, Michelles Vorsprung in allen Lebensbereichen einzuholen. Mit wechselndem Erfolg. Und eher bescheidenerem Resultat beim Gehen, insbesondere beim Treppensteigen. Während unsere kleine Prinzessin freihändig perfekt Treppen gehen kann, mit bis zu drei Puppen bewaffnet, lassen die Haltungsnoten unseres Jüngsten bei vergleichbarem Schwierigkeitsgrad doch zu wünschen übrig. Anfangs verfolgten wir seine Treppenkünste mit angehaltenem Atem und hinter seinem Rücken ausgebreiteten Händen, bis wir seiner sicher waren. Oder geglaubt hatten, sicher zu sein, denn an besagtem Kirmesmontag wurde Christophers Uraltrekord von hinabgefallenen Treppenstufen von fünf auf dreizehn verbessert. Eine hohe Zahl, eine Unglückszahl zudem, doch mit relativ glimpflichen Ausgang, sieht man von etwas Blut im Mund und einer leichten Beule ab - und von einem kleinen See von Tränen.
Jedoch war der Tag noch nicht zu Ende. Kirmes in Klausen. Limo und Fritten. Nahrungsaufnahme auf Klapptischen und -bänken. Feststimmung. Dazu gehörte für Nicolas auch das Stehen auf der Bank, Klatschen und Wippen. Von väterlichen Armen zur Vermeidung eines Sturzes umrahmt. Alles war gut, Nicolas nahm wieder Platz.
Hat nun der Dorfgeistliche die Schuld am folgenden? Wohl eher meine Wenigkeit, weil ich zu Claudia sagte: "Guck mal, da hinten kommt der Pastor!" Das hatte wohl nicht nur meine bessere Hälfte abgelenkt, sondern auch den kindlichen Schutzengel. Womöglich wollte er einen kurzen Plausch mit seinem Seelenverwandten halten.
Und so ereilte den von väterlicher und himmlischer Fürsorge alleingelassenen Nicolas sein Schicksal. Er hatte sich vermutlich zu weit zurückgebeugt, kippte nach hinten, schlug mit Kopf gegen Bank und Boden und fand sich quasi jäh in den Niederungen einer post-ballermannschen Katerstimmung wieder. Während wir penibelst Nicks Hinterkopf nach Verletzungen untersuchten, bildete sich auf seiner Stirn eine walnussgroße Beule. So wurden wertvolle Kühlsekunden verloren, unterdessen sich teilnahmsvolle Helfer einfanden.
Wir erklärten, dass es für heute nicht sein erster Unfall war, und mussten zehn Minuten später erfahren, dass es nicht sein letzter war. Er hatte Sitzverbot bekommen und tänzelte auf dem Boden. Normalerweise hätte seine Beule ein weit sichtbares Warnzeichen für jeden sein müssen, nicht jedoch für jene Kirmesbesucherin, die, eine doppelte Essensration balancierend, ihren Sitzplatz suchte. Nicolas machte einen Ausfallschritt in die falsche Richtung, wurde prompt von der hungrigen Frau überrannt und fiel... - aber das kennen Sie ja. Es sprach allerdings für seine Konstitution, dass er nach dem erneuten Malheur unverzüglich zur Selbsthilfe schritt und die vom zweiten Unfall auf dem Tisch abgelegte kühlende Serviette suchte und eigenhändig an die schmerzende Stelle hielt.
Danach ließen wir unseren Jüngsten nicht mehr zu Boden, tranken aus, packten unsere Sachen und verließen das Fest, wobei ironischerweise Michelle beinahe über die Füße einer anderen Frau gestolpert wäre.
Wir zogen einen Schlussstrich unter diesen beulenbehafteten Tag. Nun sitzen Claudia und ich hier in der Nachbetrachtung der Ereignisse. Während ich achtlos das Schreiben von Nicolas Unfallsversicherung zwecks Beitragserhöhung (von wegen erhöhtem Risiko) beiseite schiebe und mir Prospekte für Schutzhelme und gepolsterte Kleidung für zweijährige Unglücksraben ansehe, hält Claudia verzweifelt in den Gelben Seiten Ausschau nach unterbeschäftigten schützenden Engeln. (03./04.07.2001)

Copyright by Frank Schmitt


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