Geschichten aus dem Familienleben

Kapitel 10: Zwillinge - Bilanz nach achtzig Tagen Chaos

Nach etwa elf Wochen Leben zu fünft kann man hingehen und ein Zwischenfazit als Zwillingsvater ziehen - und es ist wohl auch die erste Gelegenheit, die man dazu hat. Die verkürzten Schlafzeiten hat man akzeptiert, ebenso wie die chaotische „Ordnung“ in Haus und Leben, die Hobbys sind auf ein Mindestmaß reduziert, ein abendliches Ausgehen zu Zweit gerät schier zum so genannten Event. Trotz allem fällt mir noch der leichtere elterliche Part zu, als tagsüber Arbeitender kann man meine wochentägliche Funktion wohl eher als 630-Mark-Vater umschreiben, zugegeben mit üppigen Sonderschichten am Wochenende; was überwiegt ist die Bewunderung, wie meine Frau Claudia diesen Vollzeit-Job schafft. „Das können nur Frauen“, wie mir eine andere dreifache Mutter erklärte, und ich muss dem beipflichten, wenn ich an letzten Monat denke, in dem ich mich nach zweiwöchigem „Urlaub“ aufatmend im Berufsstress erholte.
Zumindest hat mir - sonst eher im Hintergrund stehend - meine Rolle als Zwillingsvater eine gewisse Popularität in Wohn- und Geburtsort eingebracht. Wenn auch nicht jeder meinen Namen kennt, so bin ich auf jeden Fall „der mit den Zwillingen“. Und gerne auch bereit, Leuten, mit denen man früher nur die Tageszeit ausgetauscht hat, ein Interview zu geben. „Das ist das Mädchen, und das ist der Junge.“ Oder: „Nein, wenn der eine schreit, wird der andere nicht automatisch wach.“ Oder auch leicht säuerlich: „Nein, es sind keine eineiige Zwillinge.“
Ganz besonders beliebt ist die Frage, ob Zwillinge in der Familie liegen oder... (Für denjenigen, der es noch nicht weiß: Wir sind beidseitig vorbelastet, sowohl mein Großvater als auch Claudias Großmutter waren Zwillinge.) Irgendwann, wenn mir der Kragen platzt, werde ich sagen „Nein, es war eine Hormonbehandlung“ und zusehen, wie der Fragesteller vor Schreck umfällt.
Doch gehen wir auf besagtes „eineiiges“ Geschwisterpaar mal näher ein. Worin unterscheiden sie sich noch außer dem gewissen kleinen Unterschied. Nun, wie die 80-tägigen Charakterstudien zeigen, in sehr vielem...
Nicolas, der Letztgeborene, ist der ruhende Pol des Duos. Er kann sich eine Stunde damit beschäftigen, die Bärchen in seinem Kinderwagen oder die Blumen auf der Fensterbank anzuschauen. Schon im Mutterbauch von seiner kleineren Schwester schikaniert und bei der Geburt an zweite Stelle zurückgedrängt, ist er derjenige, der am leisesten schreit, meistens in einem Mitleid erregenden Tonfall. Dafür sind seine „Bäuerchen“ unüberhörbar (bedingt durch seinen größeren Resonanzkörper), was ich den Nachbarn gegenüber immer wieder betone, um nicht selbst in Verdacht zu geraten. Ein Problemchen ist die viele Luft in seinem Bauch, was ihm den Spitznamen „Blähboy“ einbrachte.
Michelle, das so genannte Sandwichkind (das mittlere von drei Kindern), ist von ganz anderem Kaliber. Obwohl nur viereinhalb Pfund schwer bei der Geburt, war schon schnell klar, dass es über beide Brüder schnell das Zepter schwingen würde. Wenn sie brüllt, lässt man Nicolas flugs links liegen, nur damit man ihr Schreihälschen ruhig bekommt.
Ihr Blick ist beim Hochholen eine Mischung aus energisch und hab-ich's-mal-wieder-geschafft. Als Kosenamen neben „Michimaus“ haben sich „Grisu - der kleine Drache“, „Pferd“ (weil sie manchmal so prustet) und vor allen Dingen „kleine Hexe“ durchgesetzt. Letzteres bestimmt auch das erste Geschenk, was für ihren ersten Geburtstag bereits feststeht: ein kleiner Besen, wo wir sie dann draufsetzen. Des Weiteren hat sie noch die Eigenart, dass sie nach dem Trinken - nun, nennen wir es - spuckt; das brachte ihr auch den Namen „Mrs. Spuck“ ein. Eine nervende Unart, egal, Schwamm drüber - jedes Lächeln von den zweien entschädigt für vieles.
Dennoch ist der alltägliche Höhepunkt der abendliche Countdown, wenn wir ab etwa 19.30 Uhr beginnen, die Anzahl unserer noch wachen Kinder rückwärts zu zählen. Noch drei - nur noch zwei (dann ist Christopher im Bett) - nur noch eins - und gegen durchschnittlich 22 Uhr: keines mehr. Zum Feiern, das wir mal wieder einen Tag mit den Dreien geschafft haben, fehlt uns dann jedoch die Kraft, und ausgepumpt fallen wir ins Bett, in der Hoffnung, dass unser wohlverdienter Schlaf wenigstens länger als eine Stunde andauert. (08./10.10.1999)

Copyright by Frank Schmitt


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