Kapitel 6: Der kleine
Einbrecher
Donnerstag, 8. April 1999
Neugierde ist eine Tugend,
ohne die die Menschheit nicht den heutigen die Entwicklungsstand
erreicht hätte. Es kann aber auch eine Untugend sein, die einen
Menschen in eine solche Situation bringt, in die er lieber nicht
geraten wäre.
Diese Erfahrung musste meine liebe Frau
machen, die mit der besagten Tugend reichlich gesegnet ist. Neben
unserem Haus wird im Moment ein kleines Büro eingerichtet, und
es bot sich für Claudia die Gelegenheit, unbeaufsichtigt einen
Blick in die neuen, fast fertig gestellten Räumlichkeiten zu
werfen. Es handelt sich um vier Räume: Vorraum, Kundenraum,
angebauter Besprechungsraum und das eigentliche Büro, die man in
dieser Reihenfolge betritt, wobei Büro und Kundenraum nur durch
einen Schalter getrennt sind und Büro und Vorraum durch eine
schmale Wand, in die unten eine ca. 40 x 50 cm große Klappe
einlassen ist. Nachdem Claudias Inspektion zu ihrer allgemeinen
Zufriedenheit ausgefallen war, beging sie den fatalen Fehler, die
Zwischentür Kundenraum/Vorraum zuzuziehen. Das Problem dabei
war, dass diese Zwischentür nur innen ein Türklinke
hat und außen einen Türknauf . Nun, man könnte die
Tür ja aufschließen, nur hatte sie zu diesem Zeitpunkt
noch kein Schloss. Entsetzt über ihr Missgeschick kam
Claudia angelaufen und meinte, mit einem Draht, den man durch die
Schlossöffnung treiben könnte zur inneren Türklinke,
und dann daran ziehen, würde man sie geöffnet bekommen. Ich
ließ sie erst mal alleine gewähren, gehässig wie ich
bin und mit der Genugtuung, dass die Neugierde noch einmal ihr
Verderben ist. Natürlich funktionierte es nicht.
Dann
jammerte sie so lange rum, bis ich in den Vorraum mitkam, um es mir
mal selber anzusehen, unseren Kleinen im Schlepptau. Ich probierte es
selbst mal, merkte aber, dass es nur schwer möglich wäre,
weil der Türgriff ziemlich ungünstig gelegen und außerdem
auch nur mit einem gewissen Druck zu bewegen war.
Da hatte ich
eine Idee. Ein Blick auf die in der Wand zum Büro eingebaute
Klappe - genau, da war noch kein Schloss drauf, die Klappe ließ
sich öffnen, das könnte passen. "Also, Christopher,
komm mal her. Du krabbelst jetzt mal da durch, dann gehst du zur
nächsten Tür und machst die auf." Tolles Spiel, dachte
unser Kleiner, war im Nu durch die Öffnung im Büro und
drückte die Tür zum Beraterzimmer auf. Dann wusste er
jedoch nicht weiter, weil er uns nicht mehr sehen konnte. Ich lief
nach draußen, klopfte von außen an das Fenster zum
Beratungszimmer, bis unser Sprössling mich bemerkte und
freudestrahlend ankam. "Jetzt musst Du die andere Türe
aufmachen, Christopher, zum Kundenraum." Auch das hatte er recht
schnell begriffen, und den Rest konnte er sich selbst zusammenreimen.
Bis ich zurück bei Claudia war, hatte er schon längst die
Türe zum Vorraum geöffnet und meiner Frau die Peinlichkeit
erspart, einen Schlosser zu rufen und damit offen zulegen, dass
sie sich im Büro umgesehen hatte (was ich hiermit in aller
Internet-Öffentlichkeit nachhole - jetzt muss ich mich
ducken, denn es kommt ein Schuh angeflogen).
Christopher war so
stolz auf sein Kunststückchen, dass er es gleich noch mal
probieren wollte. Ein paar Minuten darauf kam der für den Umbau
zuständige Architekt an, dem wir alles gestanden und der die
Begebenheit mit Humor vernahm. Christopher unterstützte unsere
Erzählung durch heftiges Gestikulieren, wie er es angestellt
hatte.
Ich glaube, er hat jetzt soviel Geschick, dass wir auf
unserer nächsten Diebestour unseren kleinen Einbrecherkönig
mitnehmen können. (14.04.99)
Copyright by Frank Schmitt